Was wir aus der Berichterstattung zum Terroranschlag in Wien lernen können.
Ein Multimedia-Feature von Eva Sager
Am Desider-Friedmann-Platz in Wien steht seit Februar 2021 ein Gedenkstein. Er soll erinnern - an die vier Menschen, die in der Nacht des 02. November 2020 ihr Leben verloren, an die 23 Verletzten, an die unzähligen Betroffenen des Terroranschlags.
Neun Minuten dauert es, bis die Sondereinheit WEGA den Attentäter erschießt. Er ist 21 Jahre alt. Und IS-Sympathisant. Schon 2018 wollte er nach Syrien reisen, um dort für ein islamisches Kalifat zu kämpfen. Zwei Jahre später erschießt er wahllos Passant:innen am Schwedenplatz.
Nach dem Anschlag wird Kritik laut. Eine Sprecherin der slowakischen Polizei erklärt, dass der Attentäter schon im Sommer versucht hatte, Munition in der Slowakei zu kaufen. Das österreichische BVT wusste davon.
Ein Rechercheteam von Der Standard rekonstruierte in einer Dokumentation den Anschlag, sprach mit Opfern, Hinterbliebenen und Expert:innen und stellte fest:
Es wurden mehrere Chancen verpasst, wie der Anschlag womöglich hätte verhindert werden können.
Dutzende Liveticker, Spezial-Sendungen und Liveschaltungen. In den Medien ist der Terroranschlag überall. Auf Social Media trendet das Hashtag #w0211. Unter ihm verbreiten sich Videos von der Tat, sie zeigen Schusswechsel, Verletzte, Tote. Es dauert nicht lange, bis die Presse sie findet. Und übernimmt.
Verantwortungsvoll berichten wollen alle Medien. Aber was tun, wenn sie es nicht machen? Der Österreichische Presserat fungiert hier als Selbstkontrollorgan von Printmedien und deren Online-Auftritten. Anhand des Ehrenkodex für die österreichische Presse beobachtet er das Mediengeschehen, prüft Beschwerden von Leser:innen und verurteilt, wenn nötig.
Wirkliche Konsequenzen haben seine Entscheidungen nicht. Sie sollen mahnen, an das Medium appellieren.
Journalismus bedingt Freiheit und Verantwortung. (Österreichischer Presserat)
Harald Fidler ist Medienredakteur bei der österreichischen Tageszeitung Der Standard.
Der Presserat hat ein sehr relevantes Instrument: Das ist die Öffentlichkeit.
krone.at und oe24.at werden vom Presserat für ihre Berichterstattung gerügt. Sie veröffentlichen ein Video, das die Erschießung einer Passantin zeigt und zeigen Material eines Schusswechsels, bei dem ein Polizist zu Boden geht.
In beiden Fällen verletzten sie die Intimsphäre und den Persönlichkeitsschutz der dargestellten Personen. Der Presserat erklärt:
Bei einem Terroranschlag ist das erlittene Leid der Opfer und deren Angehörigen beträchtlich. Es darf durch die Medienberichterstattung nicht vergrößert werden.
Fritz Hausjell ist österreichischer Kommunikationswissenschafter und Medienhistoriker.
Der Journalismus hat die Verantwortung, dass er mit den Bildern des Schreckens sehr, sehr knausrig haushaltet.
Inmitten der ganzen Diskussion um Bilder, Videos und Schlagzeilen steht ein Name: Der des Attentäters. Oder eben nicht.
Österreichs Medien müssen sich während ihrer Berichterstattung zum Terroranschlag mit der Frage konfrontieren, wie sie mit seiner Identität umgehen wollen. Ob sie seine Geschichte erzählen, seine Bilder zeigen, seinen Namen nennen.
Lena Leibetseder ist Online-Redakteurin beim österreichischen Nachrichtenmagazin profil. Dort entscheidet sich die Redaktion dazu, den Namen des Attentäters nicht zu nennen. Warum?
Wir wollten dem Attentäter kein Gesicht geben. Für die Aufarbeitung des Terrors brauchen wir den vollen Namen nicht.
Die Diskussion rund um die Berichterstattung zum Terroranschlag erreichte nicht nur den Presserat, sondern auch die Kampagnenorganisation #aufstehn. Über 80.000 Menschen unterschrieben eine Petition der Plattform, die die Einstellung aller öffentlichen Förderungen für oe24 und eine Reform der Medien-Fördergesetze verlangte. Zusätzlich wurden Unternehmen von #aufstehn dazu aufgefordert, nicht mehr in oe24.at oder den dazugehörigen Printprodukten zu inserieren.
oe24 hat im Zuge der Terroranschläge in Wien erneut bewiesen, dass dem Medium jegliches Gespür für seriöse Berichterstattung fehlt.
Rund um die Redaktion des Fellner-Mediums mietete sich #aufstehn außerdem alle Plakatwände und appellierte an die journalistische und medienethische Verantwortung der Redakteur:innen.
Maria Mayrhofer ist Gründerin und Geschäftsführerin der Organisation #aufstehn.
Es muss Qualitätskriterien für Presseförderung geben.
Wie ordnen Sie die Berichterstattung zum Terroranschlag in Wien seitens österreichischer Medien im Nachhinein ein?
Die Berichterstattung rund um die Terrornacht in Wien war ein trauriges Highlight, aber kein Einzelfall: Falschmeldungen und Berichte, in denen Menschen gegeneinander ausgespielt werden, stehen insbesondere im Boulevard auf der Tagesordnung. Das haben wir beispielsweise besonders nach 2015 mit Blick auf die Berichterstattung über geflüchtete Menschen immer wieder erlebt. oe24 hat sich in der Terrornacht nicht wie ein seriöses Medium verhalten, sondern wie ein Influencer mit Fokus auf Klicks und Likes berichtet. Fakten wurden nicht gecheckt, Bilder von Hinrichtungen und Menschen, die um ihr Leben laufen, unverpixelt gezeigt und Polizeiwarnungen ignoriert. oe24 berichtet genauso, wie es sich der Attentäter gewünscht hätte: Verbreitet Angst und Schrecken durch verstörende Bilder und Falschmeldungen, bringt Ermittlungen und Opfer in Gefahr und bietet Nährboden für Furcht und Hetze. Im Nachhinein wurde deutlich, dass es von Seiten von oe24 kein Verständnis für das Fehlverhalten gab. Zwar gab es eine Entschuldigung, falls mit dem Video persönliche Gefühle und Betroffene verletzt wurden, aber Tonalität, Falschmeldungen und sensationalistische Berichterstattung wurden nicht thematisiert.
Was wäre nötig, um eine medienethische Terrorberichterstattung zu garantieren?
Wie ist es zur Kampagne bzw. Petition von #aufstehn gegen oe24.at gekommen?
Noch in der Nacht des Attentats haben zwei Zwillingsschwestern auf unserer Petitionsplattform eine Petition gestartet, nachdem sie die pietätlose Berichterstattung von oe24 verfolgt hatten. Die professionellen Campaigner:innen von #aufstehn haben sie bei der Umsetzung und bei weiteren Schritten unterstützt. #aufstehn selbst hat anknüpfend an die Petiton einen partizipativen Boykottaufruf für Inserate an Unternehmen gestartet, woraufhin zahlreiche Unternehmen ihre Werbung bei oe24 einstellten. Das Thema Medienförderung und Pressefreiheit begleitet #aufstehn bereits seit 2016/17 als der damalige Medienminister mit Plänen zu einer neuen Medienförderung aufhorchen ließ, die auch Plattformen wie unzensuriert.at begünstigt hätte. Mit einem Appell an den Medienminister konnte dieser Vorschlag verhindert werden. 2021 haben wir anlässlich der Inseratenaffäre unseren Appell nach einer neuen Medienförderung und für ein Ende der Inseratenkorruption gestartet, der aktuell rund 25.000 Unterstützer:innen zählt.
Die Verantwortung, die Medien tragen, wenn sie über Terror berichten, ist groß. Das war auch vor zwei Jahren in Wien so. Terrorist:innen wollen, dass ihre Bilder und Botschaften weiterverbreitet werden. Und um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, brauchen sie die Presse.
The media are the terrorists best friends (…) The terrorists act by itself is nothing, publicity is all. (Laqueur, 1977)
Für eine gute Terrorberichterstattung braucht es deshalb immer medienethische Grundsätze. Ohne Richtlinien, Kontrolle und Reflexion laufen Medien Gefahr, in genau jene Fallen zu tappen, die Terrorist:innen für sie aufstellen. In Wien beschwerte sich 2020 die Öffentlichkeit. Der Presserat rügte. Und man lernte dazu. Dass man nicht jedes Bild zeigen muss, dass es darum geht einzuordnen und zu recherchieren.
Der Terroranschlag in Wien machte außerdem deutlich, welche Medienschaffenden Interesse an einer solchen medienethischen Auseinandersetzung haben. Und bei welchen Medien gesellschaftliche Verantwortung mehr zählt als Klicks.