von Leontine Karoline Berginz
Ein Weltenwanderer stellt sich vor
Hast du schon einmal meinen Namen gehört: Numenius tenuirostris?
....
Nein?
Man kennt mich vielleicht besser als Dünnschnabel-Brachvogel:
Ein mittelgroßer Vogel mit einer schlanken Gestalt und einem markanten, leicht gebogenen Schnabel, der meiner Art ihren Namen gab. Mit einer Flügelspannweite von bis zu 80 Zentimetern war ich wie geschaffen für weite Reisen, die mich über Kontinente führten.
Doch was denkst du:
Wäre ich dir in freier Wildbahn aufgefallen?
Zwischen Mooren und Mittelmeer
Eine Reise voller Rätsel
Hast du dich jemals gefragt, woher ich kam und wohin mich meine Reisen führten?
Meine wichtigsten Brutgebiete lagen, soweit man weiß, in den weiten Moorlandschaften Westsibiriens. Sicher dokumentierte Brutkolonien wurden zwischen 1909 und 1924 in der Region Tara entdeckt, etwa 250 Kilometer nördlich von Omsk.
Jedenfalls zog es mich im Winter in wärmere Gefilde: Die Küsten des westlichen Mittelmeers, von Marokko bis Mitteltunesien, wurden zu meinem Zufluchtsort. Gelegentlich überflog ich auch das Nildelta, das Euphrat-Delta im Irak und Kuwait oder die kargen Landschaften des Jemen. Manchmal verirrte ich mich auf meinen Reisen sogar nach Mittel- und Westeuropa – ich war allemal ein seltener Gast, der für Staunen sorgte.
Die Berichte über mich und meine Art sind zahlreich, doch die Spuren verwischen sich mit der Zeit. Viele sahen mich kommen und gehen, doch genau verstanden, wohin ich gehörte, hat wohl niemand. Vielleicht lag darin immer ein Stück meines Geheimnisses:
Ein Vogel, der die Welt durchquerte, ohne je ganz greifbar zu sein.
Vom Himmel verschwunden
Die letzten Spuren
Nach 1995 gab es weltweit etliche Suchexpeditionen und Aufrufe an Vogelbeobachter:innen, doch trotz jahrzehntelanger Bemühungen war es dem Menschen nicht mehr gelungen, ein lebendes Exemplar von meiner Art zu finden. Die genauen Gründe für mein Verschwinden lassen sich nicht vollständig klären. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass eine Kombination aus verschiedenen Faktoren meinen Rückgang beschleunigt hat. Kannst du dir vorstellen, was dazu geführt haben könnte?
Versuche, die Ursachen zu erraten, und entdecke dann die Antworten, die sich hinter den Bildern verbergen:
Die Suche nach mir nahm schließlich eine neue Wendung.
Um die Wahrscheinlichkeit meines Aussterbens zu berechnen, entwickelte ein Team des britischen Naturkundemuseums gemeinsam mit Expert:innen verschiedener Vogelschutzorganisationen im Rahmen einer im November 2024 veröffentlichten Studie ein statistisches Modell. Es berücksichtigte sämtliche verfügbare Daten über meine Art – von vergangenen Sichtungen und Expeditionen bis hin zu potenziellen Bedrohungen, denen ich im Laufe der Jahre ausgesetzt war.
Das Ergebnis der Studie:
Mit einer Wahrscheinlichkeit von
gibt es keinen lebenden Dünnschnabel-Brachvogel mehr.
Nach den Richtlinien der IUCN (International Union for Conservation of Nature) gelte ich nun offiziell als ausgestorben. Mit meinem Verschwinden endet nicht nur die Geschichte einer Vogelart, die einst den Himmel über Europa durchzog – ich reihe mich damit zugleich in eine düstere Liste ein: Nach dem Riesenalk und dem Kanaren-Austernfischer bin ich die dritte europäische Vogelart, die seit der Neuzeit durch Menschenhand ausgelöscht wurde – und die erste, die auf dem Festland heimisch war.
Ich war einst ein Symbol für die reichhaltige Biodiversität Europas - ein lebendiger Beweis für die Vielfalt und Schönheit unserer Natur. Nun stehe ich sinnbildlich für die wachsende Bedrohung und den Verlust unzähliger Arten.
Die Rote Liste
Ein Mahnmal der Vergänglichkeit
Vielleicht fragst du dich, was es eigentlich überhaupt bedeutet, wenn viele andere Arten – und ich – auf der Roten Liste der IUCN stehen:
Seit 1963 erstellt die Internationale Union für Naturschutz (IUCN) diese Liste, um das Aussterberisiko von Tier- und Pflanzenarten sichtbar zu machen. Jede Art wird dabei nach festgelegten Kriterien in eine Gefährdungskategorie eingeordnet – von „nicht beurteilt“ bis „ausgestorben“.
Extinct: Eine Art gilt als ausgestorben, wenn keine Beobachtungen mehr gemacht wurden und keine Hinweise darauf bestehen, dass noch ein einziges Exemplar existiert. Es gibt keine Zweifel mehr, dass sie vollständig verschwunden ist.
Extinct in the Wild: Diese Art gibt es nur noch in Gefangenschaft oder an Orten, die weit außerhalb ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets liegen.
In der Natur ist sie nicht mehr zu finden.
Regionally Extinct: Eine Art ist in einer bestimmten Region oder einem Land ausgestorben, aber noch in anderen Gebieten vorhanden.
Critically Endangered: Diese Art ist extrem gefährdet und hat ein sehr hohes Risiko, in naher Zukunft in der Natur auszusterben.
Endangered: Diese Art hat ebenfalls ein hohes Risiko, in naher Zukunft auszusterben, aber nicht ganz so extrem wie eine Art in der Kategorie "vom Aussterben bedroht".
Vulnerable: Diese Art ist gefährdet und hat ein höheres Risiko, in der Zukunft auszusterben, aber sie ist noch nicht unmittelbar bedroht.
Near Threatened: Diese Art wird beobachtet, da sie in naher Zukunft in eine gefährdete Kategorie fallen könnte, ist aber derzeit noch nicht stark bedroht.
Least Concern: Diese Art ist weit verbreitet und in keiner Weise bedroht. Es gibt keine großen Bedenken bezüglich ihres Überlebens.
Data Deficient: Es gibt nicht genug Informationen, um eine zuverlässige Einschätzung des Aussterberisikos zu geben. Es könnte sein, dass mehr Forschung nötig ist.
Not evaluated: Für diese Art wurde noch keine Gefährdungsbewertung durchgeführt. Sie wurde noch nicht in eine der Kategorien eingeordnet.
Nachdem du nun die Theorie hinter der Roten Liste verstanden hast, werfen wir doch einen Blick auf die konkreten Zahlen:
Wie steht es um den Schutz meiner Artgenossen?
Die drei Kreisdiagramme, die du gleich sehen wirst, veranschaulichen die Verteilung der Vogelarten in verschiedenen Gefährdungskategorien der Roten Liste – für Österreich, Europa und weltweit.
(Die Prozente wurden gerundet)
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*Hinweis, den dir ein Vöglein gezwitschert hat*
Die Daten für Europa in diesem Diagramm umfassen 54 Länder und Gebiete auf dem gesamten Kontinent. Dabei reicht der geografische Bereich von Island im Norden bis zu den Kanarischen Inseln im Süden und von den Azoren im Westen bis zum Kaukasus und den Uralbergen im Osten.
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In Österreich sind also 89% der Vögel noch nicht gefährdet. Aber Moment mal, das bedeutet auch, dass etwa jeder neunte Vogel auf der Roten Liste in Gefahr ist. In Europa sieht es ähnlich aus: 86 % der Vögel befinden sich im grünen Bereich, aber das heißt auch, dass ca. jeder siebte Vogel einem gewissen Risiko ausgesetzt ist. Und weltweit? Nur 79 % der Vögel gelten als nicht gefährdet. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass jeder fünfte Vogel auf der Welt in Gefahr ist.
Ein Blick in die Felder und Wiesen
Warum der Farmland Bird Index so wichtig ist
Jetzt entführe ich dich aus der weiten Vogelwelt in die Felder und Wiesen Österreichs, denn genau dort entscheidet sich das Schicksal vieler meiner gefiederten Verwandten. Während der Red List Index unter anderem die globale Gefährdung beleuchtet, zeigt der Farmland Bird Index zusätzlich, wie dringend wir auch regional handeln müssen.
Der Farmland Bird Index (FBI) ist ein wichtiger Bestandteil des SDG 15.5 der Vereinten Nationen, das den Schutz bedrohter Arten und der biologischen Vielfalt zum Ziel hat. Der Index zeigt uns, wie es um die Vogelpopulationen in Österreichs landwirtschaftlichen Regionen steht, indem er die Bestände von 23 charakteristischen Vogelarten wie der Feldlerche und dem Kiebitz erfasst. Seit 1998 berechnet BirdLife Österreich jährlich diesen Index. Dafür werden die Veränderungen der Anzahl der Brutpaare gemessen und die Ergebnisse auf Grundlage von Feldzählungen verglichen. Die EU nutzt ihn zudem als wichtigen Indikator für den Erfolg von Maßnahmen zur Förderung des ländlichen Raums.
Der FBI begann 1998 mit einem Wert von 100, seitdem ist der Index stark gefallen. 2023 lag er bei 56,8 – fast die Hälfte der Vögel, die damals die Felder belebten, sind verschwunden. Ein starker Rückgang fand zwischen 2005 und 2011 statt, als der Index von 92,8 auf 68,5 fiel. Der Tiefstwert wurde 2022 mit 54,3 erreicht. Seitdem hat sich der Wert leicht stabilisiert, jedoch bleibt der langfristige Trend negativ.
Doch welche Faktoren tragen zum Biodiversitätsverlust und dem Rückgang der Vogelpopulationen bei?
Die Veränderung der Lebensräume ist der Hauptgrund des Biodiversitätsverlustes. Zu intensive landwirtschaftliche Nutzung, Flächenversiegelung und der Verlust von Landschaftselementen sind die Hauptgründe für den Rückgang. Jene Vogelarten, die jetzt schon im Sinkflug sind, werden sicher in den nächsten Jahren zu absoluten Seltenheiten werden und sich im Bestand nicht mehr erholen. Es zeichnet sich aber auch schon ein Rückgang bei noch häufigeren Arten ab, wie z. B. bei der Mehlschwalbe. Sie könnte mittelfristig auch zu einer seltenen Vogelart werden.
- Dr. Andreas Kleewein, Birdlife Geschäftsführer in Kärnten
Nachdem wir uns gemeinsam die Entwicklung des Farmland Bird Index angesehen haben, stellt sich natürlich die Frage, wie gut es dem Menschen auf nationaler und europäischer Ebene gelingt, den Schutz der biologischen Vielfalt im Rahmen des SDG 15 – Leben an Land voranzutreiben.
Wollen wir schauen, was der Vogelexperte Dr. Kleewein dazu sagt?
Die Lage ist ernst. Um den Rückgang der Agrarvögel in Österreich aufzuhalten, sind also gezielte, finanziell gut unterstützte Naturschutzmaßnahmen unerlässlich. Doch ob diese Anstrengungen ausreichen, um den Trend umzukehren, bleibt fraglich. Für meine gefiederten Freunde wie der Grauammer sieht es momentan nämlich nicht gut aus:
Die starken Rückgänge bei Arten wie der Grauammer und dem Girlitz zeigen, dass unsere Vogelwelt in akuter Gefahr ist. Die intensive Landwirtschaft nimmt Vögeln wie mir, dem Dünnschnabel-Brachvogel, den Platz, und die Erderhitzung macht alles noch schwerer. So ist vermutlich auch der Ortolan, ein Verwandter, in Österreich ausgestorben.
Wie steht es aber um das Bewusstsein der Gesellschaft für das Vogelsterben?
BirdLife Geschäftsführer in Kärnten, Dr. Andreas Kleewein merkt dazu an:
Die Menschen nehmen es schon wahr, denken aber, dass mit Vogelfütterung das Vogelsterben abgebremst werden kann. Manche Menschen glauben auch, man kann einfach so seltene Vogelarten nachzüchten und wieder aussetzen. Grundlegend ist aber vielfach ein Umdenken da. Man merkt das auch bei jungen Landwirten, die von sich aus Hecken pflanzen und extensiver ihre Flächen bearbeiten. Zum Teil lassen diese Landwirte auch von sich aus Flächen unbewirtschaftet und geben sie der Natur zurück.
Und wie kann jeder einzelne Mensch etwas für den Artenschutz unserer Vögel tun?
Im eigenen Gartenbereich kann jeder durch das Stehenlassen von Sträuchern und alten Bäumen und vor allem durch Bereiche, die nur ein oder zweimal gemäht werden, schon einiges bewirken. Es sollte auf die Pflanzung von Kirschlorbeer und die Anlage von Rollrasen sowie der Einsatz von Rasenrobotern verzichtet werden. Die Anpflanzung von alten hochstämmigen Obstbäumen wäre auch ideal", antwortet Dr. Kleewein.
Wer keinen eigenen Garten hat, kann seinen Beitrag durch nachhaltigen Konsum oder die Unterstützung von Naturschutzprojekten leisten. Denn mit unserem Überleben sicherst du auch dein eigenes!
Wer "mit einem Sturzflug" in den Vogelschutz eintauchen möchte, dem empfehlen Dr. Andreas Kleewein und ich diese Organisationen und ihre Projekte: